03.11.2014

Sanft gegen den Krebs

Grüntee gegen Leukämie, Granatapfel gegen Prostatakrebs, Mistelextrakt gegen Tumore in der Brust: Glaubt man dem Internet, gibt es jede Menge Wunderwaffen gegen Krebs.

Das ist natürlich zu schön, um wahr zu sein. Wäre die Wirkung derart überzeugend, würde sich wohl niemand den Belastungen einer Strahlentherapie aussetzen oder Medikamente schlucken. „Trotzdem wäre es falsch, alle Methoden abseits der konventionellen Medizin als Humbug abzutun“, sagt Professor Dieter Melchart.

Melchart ist der Leiter des international renommierten Kompetenzzentrums für Komplementärmedizin und Naturheilkunde (KoKoNat) am Münchner Klinikum rechts der Isar – und damit eine Art Brückenbauer zwischen zwei medizinischen Welten.

Der Arzt ist überzeugt, dass moderne Medizin beides braucht: die Schulmedizin mit ihren erprobten Medikamenten, Operationsmethoden und Therapien auf der einen Seite und die Komplementärmedizin mit ihren gesundheitsfördernden Heilverfahren auf der anderen. „Wir müssen die Gräben überwinden und alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Patienten zu helfen“, so Melchart.

Was ist Komplementärmedizin?

Weil die Bezeichnung Komplementärmedizin nicht geschützt ist und unterschiedlich definiert wird, ist das gar nicht so leicht zu beantworten. „Letztlich ist das ein Sammelbegriff für ergänzende diagnostische und therapeutische Verfahren“, sagt Melchart. Rund 140 Heilverfahren lassen sich darunter fassen, beispielsweise Pflanzenheilkunde, Homöopathie und Ayurveda, aber auch Chiropraktik, Osteopathie, Aromatherapie und Methoden der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) wie etwa Akupunktur.

Am KoKoNat steht man diesen Methoden offen, aber nicht blauäugig gegenüber. Es kommen nur solche Verfahren zum Einsatz, deren Nutzen in klinischen Studien nachgewiesen wurde. Raum für dubiose und unseriöse Methoden gibt es hier nicht, und auch die Notwendigkeit konventioneller Wege wie Strahlen- oder Chemotherapie zweifelt niemand an.

Deshalb tut man sich dort auch mit dem umgangssprachlich gerne gebrauchten Begriff „Alternativmedizin“ schwer. Eine echte Alternative zu schulmedizinischen Methoden seien komplementäre Heilverfahren nämlich nicht. Eine Erkältung könne man vielleicht noch mit der Heilpflanze Echinacea (Sonnenhut) bekämpfen, weil der tatsächliche Nutzen am Ende egal sei. „Einer Krebserkrankung jedoch nur mit pflanzlichen Mitteln zu begegnen, kann fatale Folgen haben“, so Melchart, der die Stärken der Komplementärmedizin ohnehin anderswo sieht: „Strukturiert eingesetzt, ergänzen und unterstützen ihre Methoden die klassischen Therapieverfahren zum Nutzen der Patienten.“

Aktiv im Kampf gegen den Krebs

Dieser Nutzen bestünde vor allem darin, Menschen im Umgang mit der Krankheit mehr Eigenständigkeit zu verschaffen. „Gerade bei Krebspatienten ist der Wunsch, nichts unversucht zu lassen und sich selbst in die Therapie einzubringen sehr ausgeprägt“, weiß Melchart. Genau da setzt die Komplementärmedizin an: Ihre Methoden geben Betroffenen Mittel an die Hand, selbst etwas gegen die Erkrankung zu tun und im Umgang mit ihrem Körper kompetenter zu werden. Sie können die Beschwerden lindern, Nebenwirkungen dämpfen, die Abwehr stärken, das allgemeine Wohlbefinden erhöhen und den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Melchart spricht in diesem Kontext gerne vom „inneren Arzt“, den es zu aktivieren gilt.

„Fast alle Krebspatienten leiden zum Beispiel unter Müdigkeit und Energieverlust, das sind klassische Nebenwirkungen der konventionellen Therapie“, sagt Melchart. Hier haben sich Bewegung, Ernährung und Stressmanagement als wichtige Säulen der komplementären Therapie entpuppt.

Studien belegen, dass Ausdauerbelastung gut gegen die Beschwerden hilft. Melchart stattet seine Patienten daher gerne mit einem Schrittzähler und realistischen Zielvorgaben aus. Die Bewegung hilft nicht nur dem Körper, sondern wirkt sich auch positiv auf die Psyche aus. „Das Vertrauen in den Körper ist bei Krebspatienten oft extrem erschüttert. Durch die Bewegung kann man es zurückgewinnen und sehen, dass der Körper durchaus noch etwas leisten kann.“

Auch die chinesische Heilgymnastik Qi-Gong hält er für geeignet, ihre Wirkung ist durch Studien ebenfalls gut belegt. Bei dieser Methode stehen Stressabbau und Emotionsregulation im Vordergrund. Aufgrund ihrer schwierigen Lebenssituation weinen Krebspatienten oft, die Anfälligkeit für Depressionen ist erhöht. „Mit Qi-Gong helfen wir ihnen, wieder ein seelisches Gleichgewicht herzustellen.“ Es gibt zahlreiche Beispiele für solch positive Effekte: ob Akupunktur gegen Schmerzen oder Übelkeit, Öl-Zucker-Peelings gegen kribbelnde Beine oder Yoga gegen Schweißausbrüche – die Möglichkeiten sind vielfältig und können je nach Patient zusammengestellt werden. Generell gilt: Pauschale Lösungen gibt es nicht. „Entscheidend ist eine individuelle, fundierte und gut aufeinander abgestimmte Behandlung“, sagt Melchart.
Genau da liegt allerdings das Problem: Zwar nutzen Studien zufolge rund 50 bis 80 Prozent aller Krebspatienten Methoden abseits der Schulmedizin. Allerdings oft in Eigenregie und ohne Absprache mit dem zuständigen Onkologen. „Das ist gefährlich, denn viele Verfahren können durchaus schaden“, sagt Melchart. Dem großen Interesse der Patienten stehe ein Wissensdefizit gegenüber, und aufgrund der Vielzahl von Angeboten sei es gar nicht so einfach, wirksame und risikoarme Methoden zu finden.

So ist zum Beispiel der erhöhte Verzehr von vermeintlich tumorbekämpfenden Lebensmitteln wie Granatapfel oder Aprikosenkernen wenig hilfreich. Nicht nur, weil die Wirkung nicht wissenschaftlich belegt ist. Sondern auch, weil es zu Wechselwirkungen mit Medikamenten kommen kann. Johanniskraut, Grapefruit oder Granatapfel etwa können die Wirkung von Medikamenten hemmen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum in Heidelberg (DKFZ) warnt daher eindringlich vor einer selbstverordneten übermäßigen Einnahme.

Auch Melchart rät gerade in Sachen Ernährung zur Vorsicht. „Da kursiert viel Blödsinn. Letztlich ist eine gesunde, ausgewogene Kost mit hohem Pflanzenanteil und möglichst wenig Ergänzungen das Mittel der Wahl.“ Lediglich der Bedarf an Selen, Magnesium und bestimmten Vitaminen erhöhe sich bei manchen Therapieformen, manchmal sei dann eine ergänzende Einnahme sinnvoll. Auch hier gilt: Entscheidend ist die Kommunikation zwischen Patient, Onkologe und niedergelassenen Ärzten. Auch daran arbeitet das KoKoNat.

Das Beste für den Patienten

Melchart beobachtet ein langsames Umdenken, eine vorsichtige Öffnung der konventionellen Medizin gegenüber komplementären Methoden. So hat die Deutsche Krebshilfe eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema eingerichtet und unterstützt unter anderem die Arbeit des KoKoNat. Verschiedene Universitätskliniken greifen das Thema Komplementärmedizin auf, insgesamt wird der fachliche Austausch intensiver.

Noch ist viel Skepsis vorhanden, aber nach und nach setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Kombination aus beiden medizinischen Welten das Beste für den Patienten ist. „Und daran“, sagt Melchart, „ist schließlich allen gelegen.“