Ob Pauschal- oder Individualreise, alleine, mit der Familie, Freunden oder in einer Reisegruppe – Eines haben alle Möglichkeiten gemeinsam: Reisen können unseren Horizont erweitern und lassen uns unserem Alltagstrott entfliehen. Das gilt für Junge und Gesunde genauso wie für Alte und Kranke. Doch gerade pflegebedürftige Menschen gehen eher selten auf Reisen. Die Hürden und die Kosten scheinen oft zu hoch, es mangelt an Zeit und Energie, eine solche Reise zu organisieren. Dabei haben die positiven Aspekte bedeutsamen Einfluss auf insbesondere die geistige Verfassung von kranken und pflegebedürftigen Menschen. So auch auf die von Steffen Löw, der seit einem Autounfall querschnittsgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt.
Durch einen Autounfall zum Pflegefall
Steffen Löw weiß bis heute nicht genau, warum sich sein Wagen vor zehn Jahren in der Wüste von Namibia plötzlich überschlug. Vielleicht war es ein geplatzter Reifen. Vielleicht hatte sich ein Stein in der Achse verklemmt. Was Löw aber sehr genau weiß, ist, dass dieser Unfall sein Leben grundlegend verändert hat. Vier Halswirbel des damals 36-Jährigen wurden so stark verletzt, dass Löw von einem Moment zum anderen zum Pflegefall wurde. Diagnose: Tetraplegie, eine Form der Querschnittslähmung, die Arme und Beine betrifft. „Ich hatte den Kopf fixiert und lag im Krankenhaus. Ich konnte meine Arme kaum und meine Finger gar nicht bewegen. Neun Wochen lang habe ich nur an die Decke gestarrt. Da kommt man schon ins Grübeln“, erinnert sich Löw zurück und fügt hinzu: „Die ersten Wochen waren sehr hart. Das gebe ich zu.“
Die Erinnerungen an vergangene Reisen als Motivation nutzen
Der Weltenbummler saß auf einmal im Rollstuhl. „Das war eine schwierige Zeit. Ich war das erste Jahr nach 11 Monaten Krankenhaus viel alleine zu Hause. Ich kam alleine nicht raus, musste immer jemanden bitten.“ Doch die vielen schönen Erinnerungen an seine zahlreichen Reisen in die Vereinigten Staaten, in die Karibik, nach Namibia, Sri Lanka und Mexiko deprimierten ihn nicht, sondern gaben ihm - ganz im Gegenteil - sogar Kraft: Anstatt sich zu bemitleiden, dass er als Rollifahrer diese Reisen nicht mehr machen konnte, motivierten sie ihn, es wieder und wieder zu versuchen. „Ich werde noch einmal fahren, das habe ich mir damals fest in den Kopf gesetzt.“
Im Rollstuhl nach Sri Lanka
Und diesen Wunsch hat sich Löw so schnell wie möglich erfüllt: Bereits 2009 flog er nach Teneriffa. „Dort gibt es ein sehr gutes Rollstuhlfahrer-Hotel, das Mar y Sol in Los Cristianos mit angegliedertem Pflegedienst und Sanitätshaus. Zum Schnuppern war das ideal“, erinnert er sich. Beim Schnuppern sollte es allerdings nicht bleiben. Es folgten Reisen unter anderem nach Oberstdorf, Malta, Kreta, Lanzarote und Mallorca. Und im Mai 2015 flog Löw sogar gemeinsam mit Freunden nach Sri Lanka, um einen Freund zu besuchen, der dorthin ausgewandert war.
„Sri Lanka ist für Rollstuhlfahrer ein Niemandsland. Wir haben sehr viel selbst recherchiert, dann im normalen Reisebüro gebucht. Fast alle Hotels weltweit haben barrierefreie Zimmer, aber auf ihren Webseiten zeigen sie sie nie. Das ist schade, denn für uns Rollstuhlfahrer wäre es unglaublich wichtig zu sehen, wie die Zimmer, insbesondere die Bäder, ausgestattet sind.“ Doch weil sein Freund dort lebt, hat er ihn vorgeschickt, um die Zimmer zu fotografieren und ihre Eignung anhand einer Checkliste zu überprüfen. Auch gebe es keinerlei rollstuhlgerechte Busse und keinen Pflegedienst direkt vor Ort. „Letztendlich hat sich morgens jemand aus dem Krankenhaus in Colombo in den Bus gesetzt, ist eineinhalb Stunden zu mir gefahren, war eineinhalb Stunden da und ist dann wieder zurück gefahren.“ Organisiert hatte das das Hotel. Finanzierbar sei das nur deshalb, weil die Löhne so niedrig seien. Auch einen eigenen Taxifahrer könne man sich dann halt eben einen ganzen Tag lang leisten.
Reisen für den eigenen Horizont
Natürlich ist Löw eher die Ausnahme als die Regel. Nicht alle Pflegebedürftigen sind so motiviert und so extrem reisefreudig wie er. Dabei sind, bei allen Anstrengungen, die positiven Effekte des Reisens enorm wichtig. Das findet auch Christina Plößl. Die 45-Jährige ist Diplom-Sportlehrerin, Team- und Kommunikationstrainerin und Master-Coach im Neuro-Linguistischen Programmieren – und weiß auch um die positiven Effekte des Reisens. „Reisen erweitern meinen Horizont. Je weniger Anreize ich mir schaffe, desto mehr versinke ich ja in mir selbst. Jeder Schritt, den ich einmal aus meiner Komfortzone heraus tue – und mit Komfortzone meine ich alles, was für mich üblich und alltäglich ist – der erweitert diese Komfortzone wieder. Und vor allem machen mich Reisen teilhabend an der Gesellschaft. Sie machen mich mutiger, auch andere Dinge auszuprobieren, und erweitert damit meinen eigenen Radius.“ Allerdings warnt Plößl auch davor, sich zu übernehmen. „Man sollte die Herausforderungen so wählen, dass man sie noch alleine mit seinen Pflegekräften bzw. Angehörigen bewerkstelligen kann. Sonst gibt es Frust und Verärgerung und das führt dann eher zum Rückzug. Und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen.“
Körperliche Einschränkungen sind kein Hindernis für Fernreisen
Deshalb sollten Pflegebedürftige, die zum ersten Mal verreisen wollen, die Angebote der entsprechenden Reiseveranstalter studieren, die sich auf Menschen mit Behinderungen spezialisiert haben. So wie beispielsweise Runa Reisen. Karl B. Bock hat 2006 das Unternehmen als Reiseanbieter speziell für Rollstuhlfahrer mitgegründet. Heute bietet Runa Reisen mit Sitz im westfälischen Steinhagen Ziele in 17 europäischen Ländern an – von B wie Belgien bis Z wie Zypern. Aber auch China und Vietnam, Ägypten, Kenia und Namibia sowie Mexiko, Ecuador und Peru hat Bock im Angebot. Hinzu kommen diverse Kreuzfahrten auf dem Nil, in der Karibik oder entlang der norwegischen Küste.
Das hat natürlich auch seinen Preis – für eine Peru-Rundreise mit elf Übernachtungen inklusive eines Besuchs der Ruinenstadt Machu Picchu muss man mindestens 4.200 Euro zahlen. Andererseits sind solche Reisen auch für Menschen ohne körperliche Einschränkungen nicht ganz billig. Wer dennoch nicht so viel Geld ausgeben kann oder will, der kann auch Badeurlaub in Europa ab knapp 1.000 Euro buchen. Oder er macht – wie übrigens die meisten Kunden – Urlaub in Deutschland.
Durch neue Erfahrungen erkennen, dass ein Leben mit Pflegebedarf lebenswert ist
So oder so, da ist sich Bock sicher, ist der Nutzen für den Reisenden sehr hoch. „Viele unserer Gäste sitzen auf Grund einer Behinderung im Rollstuhl, also nicht von Geburt an. Häufig fallen sie dann in ein richtig tiefes Loch. Wenn sie auf die Möglichkeit stoßen, doch noch reisen zu können, ist es wie ein Licht am Ende des Tunnels, weil sie ins Ausland reisen, nochmal das Meer sehen und den Strand erleben können“, sagt Bock. Das gebe ihnen einen Schub und sie erkennen, dass das Leben noch nicht vorbei ist. „Als Nicht-Gehandicapter kann man nicht ganz nachvollziehen, was eine solche Reise in einem auslösen kann.“
Abenteuer und Gemeinschaft in der Gruppe
Das ist eine Beobachtung, die auch Susanne Hanowell gemacht hat. Die 51-Jährige ist Geschäftsführerin von „Urlaub & Pflege e.V.“, einem gemeinnützigen Reiseveranstalter aus Telgte, der bereits seit 1999 Reisen für Menschen mit Hilfs- und Pflegebedarf bis zum Pflegegrad 3 anbietet. Mit verschiedenen Angeboten wie Erlebnis- und Erholungsreisen sowie spezielle Reisen für Menschen mit Demenz stellt sich der Verein auf die Bedürfnisse seiner Gäste ein. Auch Gäste mit einer Sehbehinderung können durch die 1:1-Betreuung gut an den Reisen teilnehmen. „Für die meisten unserer Gäste mit Pflegebedarf steht das Erlebnis im Vordergrund, nicht die Erholung“, sagt Hanowell. „Denn in den allermeisten Fällen ist der Urlaub anstrengender als zu Hause zu bleiben. Ganz anders ist es für die pflegenden Angehörigen. Sie genießen es, sich an den gedeckten Tisch setzen zu können und sich einmal nicht kümmern zu müssen. Für beide Seiten sind die Ausflüge sehr wichtig, weil sie zu Hause oft wenig rauskommen. Auch die Gemeinschaft in der Gruppe ist mindestens genauso wichtig.“
Das Angebot von „Urlaub & Pflege“ ist im Grunde ein normales Urlaubs- und Ausflugsprogramm und unterscheidet sich nur dadurch, dass es barrierefrei ist und dass die Gäste nicht mit zu vielen Programmpunkten überfordert werden. „Wo unsereiner vielleicht drei Programmpunkte am Tag einplanen würde, planen wir nur einen ein“, so Hanowell. Aufwändig und zeitintensiv seien vor allem die Ein- und Ausstiege aus dem Bus, was bei Rollstuhlfahrern einfach länger dauert. „Aber es machen auch die Eindrücke. Häufig kommen die Menschen ja aus einem häuslichen Umfeld, in dem nicht mehr so viel passiert. Und dann kann es schnell zu einer Reizüberflutung kommen, wenn man zu viel ohne Pausen macht.“ Dabei hat sie die Erfahrung gemacht, dass einige Gäste das selbst noch gar nicht so einzuschätzen wissen. „Oft kommen Menschen mit vielen Vorstellungen und Wünschen, wie sie ihren Urlaub verbringen wollen und die Ideen haben, wie es früher im Urlaub war. Und dann merken sie erst, dass sie das alles gar nicht mehr schaffen. Unsere Aufgabe ist es, das danach zu sortieren, was wirklich wichtig ist und das Programm möglichst ruhig zu gestalten.“ Wenn das gewährleistet sei, blühen ihre Gäste richtig auf.
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Grafik: UKV
Von Gleichgesinnten lernen
Das kann Steffen Löw nur bestätigen. Denn seine selbst organisierte Sri Lanka-Reise war abenteuerlich, aber mit Sicherheit nicht erholsam. Die vielen Anstrengungen habe er auf sich genommen, weil die positiven Effekte des Reisens einfach überwiegen. „Ich bin chronischer Schmerzpatient. Und das beste gegen Schmerzen ist Ablenkung. Außerdem bin ich ein sehr liberaler Mensch und freue mich über viele neue Eindrücke. Und auch anderes Essen.“
Von seinen Erfahrungen schreibt er auf seinem Blog und gibt anderen Rollstuhlfahrern Tipps. Einer ist zum Beispiel, sich an einen erfahrenen Reiseanbieter zu wenden. „Die meisten Leute lassen sich von einer Reise abschrecken, wenn sie daran denken, welche Hilfsmittel wie beispielsweise ein höhenverstellbares Bett, einen Duschstuhl oder einen Patientenlifter sie alles zu Hause brauchen. Aber ein professioneller Reiseveranstalter weiß, worauf er da achten muss. Außerdem regelt er viele Formalitäten wie Extra-Gepäckstücke für den Flug, organisiert den Transfer und weiß, was wann anzumelden ist.“
Von seinen Erfahrungen schreibt er auf seinem Blog und gibt anderen Rollstuhlfahrern Tipps. Einer ist zum Beispiel, sich an einen erfahrenen Reiseanbieter zu wenden. „Die meisten Leute lassen sich von einer Reise abschrecken, wenn sie daran denken, welche Hilfsmittel wie beispielsweise ein höhenverstellbares Bett, einen Duschstuhl oder einen Patientenlifter sie alles zu Hause brauchen. Aber ein professioneller Reiseveranstalter weiß, worauf er da achten muss. Außerdem regelt er viele Formalitäten wie Extra-Gepäckstücke für den Flug, organisiert den Transfer und weiß, was wann anzumelden ist.“
Deshalb hat sich Steffen Löw auch nach einer längeren Krankheit 2015/16 nicht von einer zehntägigen Flugreise nach Mallorca im Frühjahr dieses Jahres abhalten lassen. Das war allerdings nicht so einfach. „Bis ich richtig organisiert war, hat es sechs Tage gedauert. Da war der Urlaub ja schon fast rum.“ Der nächste Urlaub geht deshalb wieder nach Oberstdorf. „Die haben dort ein sehr schönes Rollifahrerhotel, das Viktoria.“ Dort kenne Löw die Örtlichkeiten, das Sanitätshaus und den Physiotherapeuten – und muss sich keine Sorgen machen. Und so soll es im Urlaub schließlich auch sein.
Aktualisiert am 22.03.2021