Dortmund – Eine Stadt stellt sich dem demographischen Wandel
Kohle, Fußball, Ruhrpott – wenn es um Dortmund geht, denkt kaum jemand an Hilfe für Pflegebedürftige. Dabei liefert die Stadt Antworten auf wichtige Fragen unserer Zeit: Wie sollen wir mit dem demografischen Wandel umgehen? Wie können wir pflegebedürftige Menschen im Alltag unterstützen?
Drei Schlaganfälle, ein Oberschenkelhalsbruch, eine Alzheimerdiagnose und ein künstlicher Blasenausgang – wenn Kerstin Küster, Sonja Wagner und Marion Zimmermann* von den Leiden ihrer Angehörigen erzählen, kommt einiges zusammen. Die drei Frauen kennen sich nicht, haben aber viel gemeinsam: Sie leben in Dortmund, kümmern sich um pflegebedürftige Familienmitglieder und kamen alle an den Punkt, an dem sie sich eingestehen mussten: „So kann es nicht weitergehen.“
Kerstin Küster kümmert sich um ihre demente Tante, Sonja Wagner um ihren durch Schlaganfälle gezeichneten Mann und Marion Zimmermann um ihre nierenkranke Mutter und eine Tante, die kürzlich durch einen Sturz ihre Eigenständigkeit verlor. Dass die Frauen zwischen Pflege, Arztbesuchen, Alltagsorganisation und Papierkrieg nicht verzweifelt sind, verdanken sie einem Angebot der Stadt Dortmund, die seit knapp zehn Jahren neue Wege in Sachen Sozialarbeit geht: 2006 wurden hier zwölf hauptamtlich betreute Seniorenbüros gegründet, für jeden Stadtbezirk eines. „Diese Büros sind das Herzstück unserer Arbeit und bieten dezentrale, wohnortnahe Beratung und Hilfe“, sagt Reinhard Pohlmann vom Sozialamt Dortmund, der die Initiative von Anfang an mit betreute. Die Büros sollen Menschen dabei unterstützen, im Alter oder im Pflegefall möglichst lange selbstständig zu bleiben und zu Hause zu wohnen. Sie helfen dabei, die richtige Unterstützung für den Alltag zu organisieren – sei es durch einen passenden Pflegedienst, eine Haushaltshilfe oder einen Einkaufsbegleitservice. Es kann aber auch einfach jemand sein, der mal den Müll rausbringt, die Wäsche macht oder mit spazieren geht. „Hauptsache, wir können unkompliziert, schnell und zielgerichtet helfen“, so Pohlmann.
Ein Netzwerk bündelt Kräfte
Dafür wurden in jedem Bezirk Netzwerke geschaffen, an denen über das Demenz-Servicezentrum bis hin zu Pflegediensten, Ärzten, Polizisten, Vermietern und ehrenamtlichen Helfern alle Menschen beteiligt sind, die etwas mit dem Bereich Pflege zu tun haben. „Anfangs war das die reinste Sisyphusarbeit, aber heute haben wir verlässliche Netzwerke, an denen insgesamt circa 800 Akteure regelmäßig mitarbeiten“, sagt Pohlmann. Konkurrenzdenken und Doppelstrukturen würden so vermieden, Kräfte gebündelt und alle sensibilisiert, die mit dem Thema zu tun haben. Wenn die Polizei in Dortmund zum Beispiel einen verwirrten Demenzkranken aufgreift, dann liefert sie ihn nicht einfach nur zu Hause ab, sondern informiert die Angehörigen auch über die Seniorenbüros und das Demenz-Servicezentrum oder vermittelt direkt einen Kontakt zu den dortigen Mitarbeitern. So entstehen Strukturen, die jedem schnelle Hilfe ermöglichen.
Neben systematischer Zusammenarbeit zählt aber auch individuelle Unterstützung: Mal helfen die Mitarbeiter der Büros beim Ausfüllen von Anträgen, geben Tipps für den Besuch des medizinischen Dienstes oder verteilen Adressen von Einzelhändlern, die Lebensmittel nach Hause liefern. Außerdem machen sie Angehörige wie Sonja Wagner auf geeignete Entlastungsangebote wie Putzhilfen, den Seniorenbegleitservice, stundenweise Betreuungsgruppen für Demenzkranke oder die Tagespflege aufmerksam. Manchmal besuchen sie Menschen auf Wunsch auch zu Hause, um herauszufinden, wie man sie durch Umbauten oder Haushaltshilfen unterstützen könnte, suchen nach geeigneten Freizeitaktivitäten oder hören einfach zu, wenn es nötig ist. „Man ist ja erst mal völlig alleine und überfordert mit der Situation. Jemanden zu haben, der helfen kann und sich auskennt, ist da Gold wert“, sagt die 64-jährige Sonja Wagner, die das Seniorenbüro gemeinsam mit ihrem pflegebedürftigen Mann besuchte. „Wir haben dort nicht nur praktische Hilfe, sondern auch viel Verständnis erfahren.“
Niemand bleibt außen vor
Diese Erfahrung teilt auch Kerstin Küster. Ihre demenzkranke Tante lebt mittlerweile in einer Demenz-WG, dank der Beratung lief das reibungslos ab. „Ich habe mich schon beraten lassen, als meine Tante noch im Krankenhaus lag“, erinnert sich die 48-Jährige. Gemeinsam mit einer Betreuerin plante sie Schritt für Schritt, wie es weitergehen könnte. Auch Marion Zimmermann wüsste nicht, was sie ohne die Unterstützung tun sollte. Dass sie sich mit ihren 72 Jahren um Mutter und Tante kümmern muss, ist eine große Belastung. „Das Seniorenbüro unterstützt mich sogar bei der Beantragung einer Pflegestufe für meine Tante“, sagt Zimmermann, „ich wüsste nicht, wie ich das sonst schaffen sollte.“
Damit niemand vom Angebot ausgeschlossen wird, werben die Büros auf drei Sprachen für ihr Angebot – Deutsch, Türkisch und Russisch. Doch die Flyer sind mittlerweile kaum noch nötig, das Angebot hat sich herumgesprochen. Rund 30.000 Kontakte gibt es jährlich. Marion Zimmermann drückte die Nachbarin einen Zettel mit der Telefonnummer in die Hand, Sonja Wagner bekam den Tipp von ihrem Hausarzt. Generell nutzen vor allem ältere Menschen das Angebot, immer wieder sind aber auch jüngere dabei, die plötzlich und unvorbereitet mit dem Thema Pflege konfrontiert werden. Zum Beispiel, weil der Partner nach einem Unfall oder durch eine Krankheit plötzlich auf Hilfe angewiesen ist.
Masterplan für den demografischen Wandel
Dass Dortmund zum Musterbeispiel für den Umgang mit der demografischen Entwicklung avanciert ist, liegt auch an den Prioritäten der Stadt: Rund drei Millionen Euro fließen jährlich in die Seniorenarbeit und Begegnungsstätten. Allein 27 Hauptamtliche arbeiten in den von Stadt und Wohlfahrtsverbänden getragenen Büros, diese enge Zusammenarbeit von Kommune und Verbänden ist einzigartig. Die Mitarbeiter werden von vielen Ehrenamtlichen unterstützt, die entsprechend geschult werden. Für ihr Konzept hat die Stadt schon einige Preise gewonnen, etwa den Robert-Jungk-Preis als zukunftsweisendes Beispiel für den Umgang mit demografischer Entwicklung. Und gerade hat die Unesco das Projekt Nachbarschaftshilfe mit einem ersten Platz in der Kategorie Ideen-Initiative-Zukunft geehrt. Für die Nachbarschaftshilfe kooperieren die Senioren- mit den Familienbüros und bringen alte und junge Menschen da zusammen, wo es gerade nötig ist: Beim Eindrehen einer Glühbirne, dem Einkauf oder der Kinderbetreuung. Ein weiterer Baustein im Kampf gegen Vereinsamung im Alter sind die städtisch geförderten Begegnungszentren, die vom kleinen Seniorenclub bis hin zu großen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände reichen. Zusätzlich unterstützt ein Seniorenbeirat aus 27 Mitgliedern die Stadt bei einer altersgerechten Gestaltung.
Trotz all dieser Anstrengung ist man in Dortmund noch nicht am Ziel. Das Angebot für pflegende Angehörige soll ausgebaut werden, etwa durch Gesprächskreise oder Pflegeschulungen. „Außerdem soll eine ämterübergreifende Arbeitsgruppe zum demografischen Wandel eingerichtet werden“, erklärt Pohlmann. „Ziel ist es, auch die Infrastruktur nach und nach dem demografischen Wandel anzupassen.“ Der urbane Raum soll barrierefrei werden, etwa durch abgesenkte Bürgersteige, Rampen und Aufzüge. Wohnungen sollen den Bedürfnissen von Pflegebedürftigen angepasst werden und ein generationenübergreifendes Konzept bieten. Mit der Initiative „Anders wohnen, anders leben“ des Amts für Wohnen und Stadterneuerung realisiert die Stadt gerade Mehrgenerationenprojekte und altersgerechte Wohnungen. „Es gibt noch viel zu tun“, so Pohlmann. Dass Dortmund so gut da steht, macht ihn stolz und nachdenklich zugleich: „Eigentlich wollen wir kein Vorbild sein. Erst, wenn es von Flensburg bis Garmisch gute Angebote für pflegebedürftige Menschen jeden Alters gibt, sind wir zufrieden.“
*Die Namen wurden teilweise von der Redaktion geändert.