Eigentlich ist es ein ganz normaler Tag. Wochenende, Andrea Bittner* ist 200 Kilometer ins sächsische Seifersdorf gefahren, um den Geburtstag ihrer Freundin zu feiern. Als sie sich verabschiedet, ist es längst dunkel. Sie steigt in ihren Wagen. Die damals 54-Jährige kennt die Strecke, ist sie unzählige Male gefahren – schließlich ist sie in der Gegend aufgewachsen. Doch dann passiert es:
Mitten auf der Straße steht plötzlich ein Kalb. Wie aus dem Nichts. Für eine Vollbremsung ist es längst zu spät. Andrea Bittner klammert sich an das Lenkrad ihres Wagens. Ihr einziger Gedanke: „Jetzt bloß nicht in die Leitplanke rasen.“ An die Sekunden und Minuten nach dem Aufprall kann sie sich kaum noch erinnern. Rauch, der Airbag, ein junger Mann, der sie aus dem Wagen zieht und zum Seitenstreifen bringt. „Ich stand vollkommen unter Schock“, sagt Andrea Bittner. Sie kommt mit dem Schrecken davon. Zumindest körperlich. Psychisch und emotional hingegen verfolgt sie dieser Tag bis heute. „Es war der Tag, an dem mir erst so richtig bewusst wurde, dass es jeden Moment vorbei sein kann“, sagt die inzwischen 61-Jährige.
Nur wenige Wochen nach dem Unfall entscheidet sich Andrea Bittner vorzusorgen. Für den Ernstfall. Testament, Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung – all das will sie nun parat haben. „Für den Fall, dass mein Schutzengel mal nicht rechtzeitig zur Stelle ist“, wie sie selbst sagt. Auch mit ihren Kindern spricht sie über das Thema. „Die haben erst mal abwehrend reagiert. Natürlich ist es nicht schön, sich mit dem Tod der eigenen Eltern auseinanderzusetzen – das verdrängt man gerne.“ Dennoch, so ist die 61-Jährige überzeugt, sollten Tod und Krankheit keine Tabuthemen sein. Für niemanden. „Schließlich können selbst junge Menschen durch einen Unfall plötzlich in eine Situation geraten, in der es wichtig ist, dass Angehörige und Ärzte ihre Wünsche kennen.“
Wunsch nach Vorsorge wächst
Dass das tatsächlich immer mehr Menschen ähnlich sehen, darauf lassen aktuelle Zahlen schließen. Laut einer Umfrage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands haben rund 43 Prozent der Bundesbürger bereits eine Regelung zur medizinischen Versorgung für den Fall getroffen, dass sie sich selbst nicht mehr äußern können. Bei einer ersten Umfrage 2012 waren es nur 26 Prozent. Weitere 32 Prozent haben immerhin schon einmal ernsthaft über eine Verfügung nachgedacht. Eine Entwicklung, die auch Dr. Arnd May befürwortet. Der Medizin-Ethiker hat zum Thema Patientenverfügungen promoviert und in der AG „Selbstbestimmung am Lebensende“ des Bundesjustizministeriums mitgearbeitet. Auch er warnt: „Jeder kann durch einen Unfall oder eine schwere Erkrankung die Fähigkeit zur Mitteilung der eigenen Entscheidungen verlieren.“ Ohne Vollmacht seien Angehörige jedoch nicht automatisch entscheidungsbefugt. „Für solche Situationen ist es wichtig, sich frühzeitig Gedanken zu machen und den eigenen Willen schriftlich in einer Patientenverfügung festzuhalten“, so May.
Checkliste: Das müssen Sie bei der Erstellung einer Patientenverfügung beachten:
- Eine Patientenverfügung muss immer schriftlich verfasst werden.
- Sie muss eigenhändig unterschrieben werden (Alternative: vom Notar beglaubigtes Handzeichen).
- Eine Beratung, zum Beispiel durch den eigenen Hausarzt oder einen Notar, ist nicht zwingend erforderlich, kann aber sinnvoll sein.
- Die Patientenverfügung sollte möglichst konkret formuliert werden: In welchen Situationen soll sie genau gelten? Welche Behandlungswünsche hat der Verfasser, welche medizinischen Maßnahmen lehnt er ab?
- Wichtig ist, dass Betreuer und Ärzte im Fall der Fälle schnell von der Patientenverfügung erfahren. Vertrauenspersonen sollten deshalb davon wissen. Es kann auch sinnvoll sein, einen Hinweis auf den Aufbewahrungsort bei sich zu haben, zum Beispiel zusammen mit einem Organspenderausweis.
- Es ist nicht erforderlich, die Patientenverfügung regelmäßig zu erneuern. Wer sichergehen möchte, dass die Inhalte immer noch den eigenen Wünschen entsprechen, sollte sie aber gelegentlich überprüfen.
- Gibt es keinen Anlass zur Änderung, empfiehlt es sich, die Aktualität alle 2 Jahre durch erneute Unterschrift und Datum zu bestätigen.
- Eine Patientenverfügung kann jederzeit geändert oder formlos widerrufen werden.
- Und natürlich ist niemand verpflichtet, eine Patientenverfügung zu erstellen.
Doch das ist manchmal leichter gesagt als getan. „Ich habe viele Dokumente ausgefüllt, sogar mein Testament geschrieben und andere Wünsche schriftlich festgehalten – nur an die Patientenverfügung habe ich mich noch immer nicht so richtig ran getraut“, berichtet Andrea Bittner. Der Grund: Ohne medizinisches Fachwissen fühle sie sich überfordert. „Als Laie weiß ich ja gar nicht, wann eine Behandlung wirklich keinen Sinn mehr macht und welche möglichen Fälle eintreten können. Gleichzeitig möchte ich nicht sämtliche Entscheidungen einfach irgendwelchen Ärzten überlassen“, schildert die 61-Jährige ihren Zwiespalt.
Patientenverfügung verständlich gemacht
Genau diese Problematik hat auch Bernd Wohlfahrt erkannt – und gemeinsam mit Tobias Niemann das Service-Portal meinepatientenverfuegung.de gegründet. „Viele Menschen benötigen schlichtweg eine praktikablere Form der Unterstützung. Ohne medizinische, ethische und rechtliche Abhandlungen, ohne interessensgeprägte Einflussnahme und zeitlichen Druck. Die typischen Formulare sind dazu denkbar ungeeignet“, sagt Wohlfahrt. Genau hier soll das Online-Angebot Abhilfe schaffen. Und das tut es auch, wie Vorsorge-Experte Dr. Arnd May findet. „Der Nutzer wird Schritt für Schritt durch alle relevanten Fragestellungen geführt und erhält dazu jeweils alle wichtigen Informationen. Medizinisch, juristisch und ethisch fundierte Verfügungsoptionen erleichtern die Beantwortung“, lobt der Mediziner.
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Grafik: UKV
Ein weiteres Problem löst das Portal gleich mit: Während bisher viele Ärzte bemängeln, dass Patientenverfügungen häufig veraltet oder im Notfall nicht verfügbar sind, gewährleistet meinepatientenverfuegung.de einen Online-Notfallzugriff rund um die Uhr. Außerdem werden Nutzer alle zwei Jahre schriftlich zur Prüfung bzw. Bestätigung der Aktualität ihrer Patientenverfügung aufgefordert.
In Würde leben und sterben
Wie wichtig es sein kann, Behandlungswünsche rechtzeitig zu äußern, weiß auch Susanne Liddell. Als klar wird, dass ihrem Vater wegen einer unheilbaren Krebserkrankung nicht mehr viel Zeit bleibt, setzt sie sich mit ihm zusammen, um eine Patientenverfügung für den 84-Jährigen auszufüllen. „Wir wollten in jedem Fall verhindern, dass sein Leiden unnötig verlängert wird“, erinnert sich die 49-Jährige. Im Beisein seiner Tochter entscheidet der Rentner, dass er auf bestimmte medizinische Versorgung wie künstliche Ernährung verzichten will. Zumindest, wenn diese das Unvermeidbare nur hinauszögert.
O-Ton: Patientenverfügung in der Praxis – Susanne Liddell über die letzten Wünsche ihres Vaters
O-Ton: Susanne Liddell
„Als der Moment dann da war, war das natürlich wahnsinnig beängstigend. Ich hatte die Sorge, dass man meinen Vater qualvoll verhungern lässt“, erinnert sich Susanne Liddell. Dem Klinikpersonal gelingt es jedoch, der Familie diese Ängste zu nehmen. Die Ärzte erklären jeden Schritt, sprechen alles mit den Angehörigen ab – schließlich hat der Vater sie als rechtliche Vertreter eingesetzt. „Das war unheimlich wichtig, denn so wussten wir, dass die Patientenverfügung die richtige Entscheidung war“, sagt Susanne Liddell. Letztlich sei so der letzte Wunsch des Vaters erfüllt worden. „Er hat würdevoll gelebt und wollte auch so sterben.“ Ein Wunsch, den neben Andrea Bittner auch viele andere Menschen haben – für den Fall, dass der eigene Schutzengel mal nicht rechtzeitig zur Stelle ist.