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Pflege 4.0:
Mehr Kontrolle und weniger Scham bei Inkontinenz mit Katheter-Wearables
In unserer Reihe „Pflege 4.0“ stellen wir regelmäßig digitale Helfer vor, die die Pflege revolutionieren und das Leben von Pflegebedürftigen und Pflegenden in Zukunft erleichtern könnten. So zum Beispiel von Jan*, der seit einem Motorradunfall inkontinent ist und stark unter dem Kontrollverlust über die eigene Blase leidet.
Gut neun Jahre ist der Tag her, an dem sich Jans Leben schlagartig veränderte: Bei einem Motorradausflug kommt ihm ein Mähdrescher entgegen, er kann nicht rechtzeitig ausweichen, rammt ihn und wird aus der Kurve geschleudert. Was danach folgt, ist eine Zeit, die Jan als die schlimmste seines Lebens in Erinnerung hat. „Ich hatte verschiedene innere Verletzungen. Mein Lungenflügel war eingefallen, meine Milz gerissen und zwei Wirbel waren gebrochen.“
Drei Tage lang wird der damals 28-Jährige ins künstliche Koma versetzt. Als er aufwacht, ist nichts wie vorher: Die gebrochenen Wirbel drücken aufs Rückenmark, wichtige Nerven sind verletzt, Jan spürt seine Beine nicht mehr. Ob er jemals wieder laufen wird, ist zu diesem Zeitpunkt völlig unklar. „Die Oberärzte waren sich uneins. Manche meinten, ich werde den Rest meines Lebens im Rollstuhl sitzen. Andere waren zuversichtlicher.“
Inkontinenz – Ein unsichtbares Handicap
Die Optimisten sollten Recht behalten: Nach zweieinhalb Wochen steht Jan ein erstes Mal, nur wenige Sekunden, doch es ist ein Anfang. Ein halbes Jahr braucht er, um sich zurück ins Leben zu kämpfen. „Während der Reha musste ich wieder komplett neu laufen lernen.“ Heute, neun Jahre später, bemerken Außenstehende kaum noch, dass Jans Beine und Füße aufgrund der durchtrennten Nerven zum Teil noch immer taub sind. Wer genau hinsieht, bemerkt jedoch, dass der heute 37-Jährige humpelt, dass er langsamer läuft als Andere, und dass er für längere Strecken immer das Fahrrad nutzt. Doch mit all dem hat er sich längst arrangiert.
Was ihn viel mehr quält, ist eine andere Folge des Unfalls – eine, die niemand sieht: Jan ist inkontinent. „Der Schließmuskel meiner Blase funktioniert nicht mehr und ich merke auch nicht, wann ich mal muss.“
O-Ton: Jan zu der Belastung durch Inkontinenz
Während der Gang zur Toilette für die meisten eine selbstverständliche Nebensächlichkeit ist, spielt er in Jans Leben eine zentrale Rolle. „Um nicht Gefahr zu laufen, innerlich zu vergiften, muss ich alle vier Stunden meine Blase entleeren.“ Möglich ist das mithilfe von Einweg-Kathetern – und genau die muss der 37-Jährige ständig bei sich tragen. Wenn er zur Arbeit fährt, Urlaub macht oder einfach nur Freunde besucht. „Wenn ich die Dinger mal vergesse, muss ich umkehren.“ Passiert ist das Jan bisher aber nur ein einziges Mal. Schließlich kreisen seine Gedanken ohnehin dauernd um ein und dasselbe Thema: „Wie viel habe ich getrunken, wann muss ich das nächste Mal zur Toilette, wie viele Katheter muss ich heute bei mir tragen, wie nehme ich sie unauffällig mit zur Toilette – und vor allem: Wo kann ich sie entsorgen, ohne dass es jemand merkt?“
Scham und soziale Isolation
Um diesen emotionalen Stress zu vermeiden, kapselte Jan sich lange Zeit ab, ging nicht mehr raus, traf sich kaum noch mit Freunden. „Mir waren diese Katheter einfach furchtbar peinlich. Anfangs hatten die noch lange Schläuche, waren unhandlich und mit wahnsinnig viel Müll verbunden. So was fällt sofort auf und lässt sich nicht so einfach auf einer fremden Toilette entsorgen.“ Dass der 37-Jährige inzwischen wieder unter Menschen geht, das hat er – so sagt Jan selbst – vor allem dem medizinischen Fortschritt zu verdanken. Kathetern, die immer kleiner und benutzerfreundlicher werden. Diverse Anbieter arbeiten permanent an immer besseren Modellen. „Inzwischen sind die Dinger so klein und modern, dass sie sich in einer Gürteltasche verstauen und hygienisch entsorgen lassen.“
O-Ton: Jan zu seiner Skepsis gegenüber implantierten Lösungen
Obwohl sich Jan nun wieder frei bewegen kann, ohne dass jemand etwas von seinem Leiden bemerkt, fühlt sich der 37-Jährige dennoch gehandicapt. Der Grund: Bleibt beim Katheterisieren Rest-Urin in der Blase, so birgt das Risiken. „Ich habe alle paar Wochen eine Blasenentzündung, fühle mich krank und muss Medikamente nehmen, die auf Dauer die Niere schädigen.“ Nicht zuletzt deswegen denkt Jan schon seit Längerem über digitale Lösungen nach. „Der Blasenschrittmacher ist da eine Option. Dabei wird zuerst eine Elektrode und schließlich der Schrittmacher implantiert. Beides soll wohl helfen, die Blase wieder zu kontrollieren“, berichtet Jan. Der Gedanke, Technik in sich zu tragen, die regelmäßig ausgetauscht werden muss, habe ihn dann aber doch abgeschreckt.
Die Angst vor dem Fremdkörper
Gebhard Weber, Oberarzt am Klinikum Nürnberg und Leiter der Kontinenz-Sprechstunde, kennt derlei Bedenken. „Es gibt viele Leute, die den Fremdkörper scheuen“, weiß der Experte. Der Eingriff, um einen Schrittmacher zu platzieren, sei zwar unbedenklich. Allerdings berge die 8.000 Euro teure Technik, die von den Krankenkassen bezahlt wird, auch Nachteile: „Eine Kernspintomographie zum Beispiel ist dann nicht mehr möglich, da sich der Schrittmacher dabei erhitzen, verrutschen oder sogar umprogrammiert werden kann“, erklärt der Mediziner. Hinzukommt: Betroffene müssen sich am Flughafen mithilfe eines medizinischen Ausweises als Träger eines Blasenschrittmachers zu erkennen geben – denn Körperscanner schlagen aufgrund der Sensoren im Körper Alarm.
Kein Wunder also, dass Betroffene wie Jan auf Technik hoffen, die nicht implantiert, sondern einfach nur auf der Haut angebracht wird. Und genau daran werde in Deutschland aktuell auch geforscht, berichtet Weber. Er glaubt: In etwa fünf Jahren könnte der externe Blasenschrittmacher Realität sein. Bis das Ganze aber auch wirklich beim Patienten ankommt, werde es wohl noch etwas länger dauern. Schon jetzt verfügbar ist hingegen das sogenannte Biofeedback – eine Technik, die Patienten hilft, den eigenen Beckenboden zu trainieren.
Warum die meisten Wearables noch nicht auf dem Markt sind
Menschen, bei denen das Biofeedbacktraining nicht den gewünschten Erfolg bringt, können künftig zum Beispiel auf sogenannte Wearables hoffen. Im Ausland wird bereits verstärkt an der Entwicklung solcher digitalen Helfer getüftelt. So sollen kompakte Geräte den Träger zum Beispiel immer dann benachrichtigen, wenn es Zeit ist, zur Toilette zu gehen. Brightly, Lilium α-200 und DFree (Produkt-Video) heißen die neuen High-Tech-Geräte. Doch keines dieser Modelle ist bisher auf dem Markt. Und das, obwohl Bedarf besteht: Allein in Deutschland gibt es laut Gebhard Weber rund acht Millionen Menschen, die unter Inkontinenz leiden. Dass die Forschung häufig noch in den Kinderschuhen steckt, habe unter anderem damit zu tun, dass Blasen- und Darmschwäche lange Zeit Tabuthemen gewesen seien. „Es gab also keine offene Nachfrage“, erklärt Weber.
Doch die Nachfrage nach digitalen Hilfsmitteln wächst – nicht zuletzt aufgrund des demographischen Wandels. Häufig sind es ältere oder kranke Menschen, die nicht mehr eigenständig zur Toilette gehen können. Dass moderne Technik auch die Pflege bereichern kann, davon ist Diana Tetzlaff, Fachärztin für Urologie am Klinikum Braunschweig, überzeugt: „Für Patienten ist es unangenehm, wenn sie auf einer nassen Unterlage liegen – vor allem für sie dürfte es eine große Erleichterung sein, wenn Sensoren frühzeitig Feuchtigkeit melden und die Unterlage gewechselt werden kann.“ Zudem lasse sich mithilfe neuartiger Sensoren feststellen, welche Einlagen für den Betroffenen am geeignetsten sind. „Da muss man gleichzeitig natürlich immer aufpassen, dass der Patient nicht zu gläsern wird“, sagt Tetzlaff.
In Dänemark, berichtet die Urologin, habe es an Kliniken bereits Tests mit entsprechenden Sensoren gegeben. In Deutschland hingegen sei man häufig noch nicht soweit. „Wir nutzen bisher wenig digitale Hilfsmittel“, sagt Tetzlaff. Zwar gebe es auch am Braunschweiger Klinikum bereits Apps, mit denen Patienten ihren Flüssigkeitskonsum und den Harndrang dokumentieren können, doch zumeist werde das noch immer schriftlich festgehalten. „Vor allem ältere Menschen können sich mit der neue Technik nicht immer so schnell anfreunden“, weiß die Medizinerin. Dies werde sich mit den kommenden Generationen aber sicherlich ändern.
In Dänemark, berichtet die Urologin, habe es an Kliniken bereits Tests mit entsprechenden Sensoren gegeben. In Deutschland hingegen sei man häufig noch nicht soweit. „Wir nutzen bisher wenig digitale Hilfsmittel“, sagt Tetzlaff. Zwar gebe es auch am Braunschweiger Klinikum bereits Apps, mit denen Patienten ihren Flüssigkeitskonsum und den Harndrang dokumentieren können, doch zumeist werde das noch immer schriftlich festgehalten. „Vor allem ältere Menschen können sich mit der neue Technik nicht immer so schnell anfreunden“, weiß die Medizinerin. Dies werde sich mit den kommenden Generationen aber sicherlich ändern.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert
Veröffentlicht am 01.02.2017
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