Es ist die größte Reform, seit Einführung der Pflegeversicherung vor über 20 Jahren: Anfang 2017 treten die Änderungen des zweiten Pflegestärkungsgesetzes (PSG II) in Kraft – Pflegebedürftigkeit wird jetzt neu definiert. Wir haben bei Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nachgefragt, was Betroffene und Angehörige erwartet.
Ab dem 1. Januar 2017 wird es einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geben. Aus drei PflegeSTUFEN werden fünf PflegeGRADE. Das hört sich erst einmal kompliziert an. Was verbirgt sich dahinter? Und warum ist eine solche Umstellung überhaupt nötig?
GRÖHE: Das ist gar nicht so kompliziert. Wir haben die Unterstützung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen mit zwei Gesetzen spürbar ausgeweitet und dafür gesorgt, dass die Hilfe passgenauer wird. Denn gute Pflege gibt es nicht von der Stange, sie muss wie ein Maßanzug auf die persönliche Situation zugeschnitten sein. Dazu dient vor allem das neue Begutachtungsinstrument, das Beeinträchtigungen und vorhandene Fähigkeiten von Pflegebedürftigen in sechs verschiedenen Bereichen misst und damit insgesamt genauer erfasst.
Künftig zählen nicht mehr nur körperliche, sondern auch geistige Einschränkungen, wenn der Unterstützungsbedarf des Einzelnen ermittelt wird. Außerdem setzen die Leistungen früher an als bisher. Mit dem Pflegegrad 1 – der nicht zu vergleichen ist mit der Pflegestufe I – werden viele Menschen erstmals Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, wenn beispielsweise eine Dusche altersgerecht umgebaut werden muss oder Hilfe im Haushalt benötigt wird. Dadurch erhalten mittelfristig bis zu 500.000 Menschen zusätzlich Unterstützung.
Künftig zählen nicht mehr nur körperliche, sondern auch geistige Einschränkungen, wenn der Unterstützungsbedarf des Einzelnen ermittelt wird. Außerdem setzen die Leistungen früher an als bisher. Mit dem Pflegegrad 1 – der nicht zu vergleichen ist mit der Pflegestufe I – werden viele Menschen erstmals Leistungen der Pflegeversicherung erhalten, wenn beispielsweise eine Dusche altersgerecht umgebaut werden muss oder Hilfe im Haushalt benötigt wird. Dadurch erhalten mittelfristig bis zu 500.000 Menschen zusätzlich Unterstützung.
In Deutschland gibt es bis zu 1,6 Millionen Demenzkranke. Statistischen Grundannahmen zufolge könnte sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 sogar verdoppeln. Inwiefern hilft die Pflegereform genau diesen Betroffenen?
GRÖHE: Die Verbesserungen, die wir in dieser Wahlperiode auf den Weg gebracht haben, kommen vor allem auch Demenzkranken zugute. Schon mit dem ersten Pflegestärkungsgesetz zum 1. Januar 2015 haben wir dafür gesorgt, dass Demenzkranke Anspruch auf alle Unterstützungsleistungen im ambulanten Bereich haben. Und wir haben diese Leistungen zur ambulanten Pflege insgesamt spürbar ausgeweitet und auch im stationären Bereich für erhebliche Verbesserungen gesorgt. Mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz erhalten Demenzkranke ab 2017 erstmals gleichberechtigten Zugang zu den Leistungen der Pflegeversicherung. Damit heben wir die Unterscheidung zwischen Pflegebedürftigen mit körperlichen Einschränkungen und Pflegebedürftigen mit geistigen Einschränkungen endgültig auf. Jede und jeder soll die Hilfe erhalten, die sie oder er braucht.
Aktuell sind rund 2,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. Müssen diese Pflegebedürftigen fürchten, dass sie durch das neue Begutachtungsverfahren schlechter gestellt werden?
GRÖHE: Nein, im Gegenteil. Die meisten Pflegebedürftigen werden sogar deutlich mehr Unterstützung erhalten als bisher. Das gilt bei der Pflege zu Hause genauso wie etwa bei den Zuzahlungen, die im Pflegeheim zu leisten sind. Durch die automatische Überleitung in die neuen Pflegegrade sorgen wir zudem dafür, dass niemand einen neuen Antrag auf Begutachtung stellen muss. Menschen mit ausschließlich körperlichen Einschränkungen werden in den nächsthöheren Pflegegrad übergeleitet, also beispielsweise von Pflegestufe 2 in Pflegegrad 3. Menschen mit geistigen Einschränkungen werden in den übernächsten Pflegegrad übergeleitet, also von Pflegestufe 2 in Pflegegrad 4. Und auch in Pflegeheimen gibt es spürbare Verbesserungen: Zurzeit steigt der pflegebedingte Eigenanteil noch mit der Pflegestufe. Das heißt: Je pflegebedürftiger jemand ist, desto mehr zahlt er. Das hat dazu geführt, dass viele Heimbewohner eine höhere Pflegestufe vermeiden wollten. Sie hatten Angst davor, mehr zahlen zu müssen. Diese Sorge wollen wir ihnen nehmen. Deshalb haben wir festgeschrieben, dass der pflegebedingte Eigenanteil künftig nicht mehr mit zunehmender Pflegebedürftigkeit steigt, sondern für alle Bewohner einer Pflegeeinrichtung gleich hoch ist. Das wird viele entlasten.
70 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt. Ihre Angehörigen erledigen eine anspruchsvolle Aufgabe, die viel Kraft erfordert. Bringt die Reform für sie Verbesserungen mit sich?
GRÖHE: Viele Angehörige setzen sich unermüdlich in der Pflege ein, der größte Pflegedienst in Deutschland ist die Familie! Deswegen führen unsere Pflegestärkungsgesetze nicht nur zu höheren Leistungen für die Betroffenen, sondern sorgen auch für eine bessere Unterstützung und Begleitung der pflegenden Angehörigen. Leistungen der Pflegeversicherung, die insbesondere auch die Angehörigen unterstützen, also z. B. die Tagespflege und die Kurzzeit- und Verhinderungspflege, haben wir deutlich ausgeweitet. Und wir haben neue Entlastungsleistungen eingeführt, die zur Unterstützung im Alltag dienen sollen. Außerdem erhalten Angehörige erstmals einen eigenen Anspruch auf qualifizierte Beratung durch die Pflegekassen und Pflegestützpunkte. Und auch die Absicherung von pflegenden Angehörigen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung haben wir grundlegend neu gestaltet und ausgeweitet.
Welche finanziellen Belastungen kommen durch die Reform auf die Beitragszahler zu?
GRÖHE: Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass der Beitragssatz zur Pflegeversicherung in dieser Wahlperiode um 0,5 Prozentpunkte erhöht werden soll, um wichtige Verbesserungen in der Pflege zu finanzieren – 0,3 Prozentpunkte waren es zum 1. Januar 2015 und 0,2 Prozentpunkte werden es zum 1. Januar 2017 sein. Und wir sehen in Umfragen, dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ganz deutlich dafür ausspricht, die Pflege besser auszustatten und dafür auch bereit ist, diese Beiträge mitzutragen. Das ist ein starkes Zeichen für die generationenübergreifende Solidarität. Insgesamt fließen so fünf Milliarden Euro zusätzlich pro Jahr in konkrete Leistungsverbesserungen, das ist eine bisher einmalige Steigerung von 20 Prozent. Zugleich lässt es die finanzielle Situation der Pflegeversicherung zu, dass wir die Beitragssätze bis 2022 stabil halten können.