Als Placebo-Effekt bezeichnet wird die Wirkung einer medizinischen oder therapeutischen Behandlung bezeichnet, die nicht auf ein Medikament oder eine Behandlungsmethode zurückzuführen ist. Manchmal reicht es, von der Krankenschwester eine wirkungslose Pille zu bekommen, um die Beschwerden zu lindern. Oder ein Gespräch mit dem Arzt sorgt für eine Verminderung des Leidens. Über Homöopathie heißt es häufig, dass ihre Wirkung nicht über diesen unspezifischen Effekt hinausgehe. Gunter Meinlschmidt ist Psychotherapieforscher und hat dadurch mit dem Placebo-Effekt zu tun. Im Interview berichtet er über die Notwendigkeit, den Patienten und seine subjektive Wahrnehmung in die Behandlung mit einzubeziehen und warum die Homöopathie dabei durchaus eine Rolle spielen kann.
Ab und an wird im Rahmen der Homöopathie argumentiert „wer heilt, hat recht“. Sie sind Psychotherapeut und arbeiten daran, dass es Menschen besser geht. Können Sie der Aussage zustimmen?
MEINLSCHMIDT: Die Aussage „wer heilt, hat recht“ möchte ich nicht pauschal unterschreiben. Wer heilt, heilt oder wer heilt, hilft dem Menschen. Die Aussage suggeriert nämlich, dass die Heilung ein Nachweis dafür ist, dass die Vermutung über das, was passiert ist, auch stimmen muss. Das heißt, wenn jemand beispielsweise eine neue Therapie entwickelt, sie anwendet und es der Person besser geht, würde daraus der Schluss gezogen: Die Therapie hat gewirkt aufgrund des angenommenen Mechanismus‘. Es muss aber überhaupt nicht so sein. Es kann so sein, also: Wer heilt, hat womöglich recht. Gleichzeitig ist es natürlich wichtig, dass es dem Menschen besser geht und dass er geheilt wird. Der Mechanismus ist dann manchmal zweitrangig. Das ist sicher aus einer pragmatischen, praktischen und vielleicht auch einer 'modernen' Perspektive ein legitimer Standpunkt.
Was unterscheidet diese 'moderne' von der traditionellen Perspektive?
MEINLSCHMIDT: Die klassische Perspektive wäre: Es gibt eine neue Therapieform – beispielsweise ein Krebsmedikament – und nach dessen Verabreichung wird gemessen, ob die Aktivität oder die Anzahl der Krebszellen weniger wurde. Das ist dann das Maß, ob eine Therapie wirkt oder nicht. Beim 'modernen' Ansatz rückt das Erleben des Patienten stärker ins Zentrum, indem sogenannte 'Patient Reported Outcomes', kurz PRO, mit einbezogen werden. Wir fragen die Personen: „Wie fühlen Sie sich? Geht es Ihnen besser? Wie ist Ihre Möglichkeit am Leben teilzunehmen?“ Das geht über Symptome hinaus und schließt Lebensqualität und Funktionsfähigkeit mit ein, also Teilhabe am Leben. Und das zählt.
Es geht also mehr um die subjektive Wahrnehmung des Patienten?
MEINLSCHMIDT: Genau. Subjektiv heißt aber nicht, dass man die Leute aus dem Bauch heraus fragt, sondern anhand von standardisierten Fragebogen. So wird der Patient als subjektiv erlebende Person in das Zentrum gerückt. Zur Weiterentwicklung ist es zwar wichtig, die biologischen Mechanismen zu kennen. Anhand des Beispiels Krebsmedikament ist es zentral zu wissen: Verändert es etwas an den Tumorzellen? Jedoch bringt es nichts, wenn eine Krebstherapie alle kranken Zellen beseitigt, die Person dabei aber beispielsweise durch Nebenwirkungen so eingeschränkt ist, dass sie gar nicht mehr in der Lage ist am Leben teilzunehmen.
Könnte das ein Grund für den Erfolg der Homöopathie sein – dass die Menschen dabei das Gefühl haben, ganzheitlich und mit ihrer eigenen Wahrnehmung angenommen zu werden?
MEINLSCHMIDT: Da kenne ich die Homöopathie zu wenig um zu wissen, ob das subjektive Erleben dort wichtiger ist als bei der schulmedizinischen Arbeit einer Hausärztin oder eines Hausarztes. Das würde ich nicht ausschließen, aber ich bin sehr vorsichtig mit solchen Vermutungen, so lange ich nicht empirische Daten dafür habe. Meiner Erfahrung nach sind viele schulmedizinische Hausärztinnen und Hausärzte sehr nah am Menschen.
Nun spielt gerade in der Psychotherapie die Beziehung zwischen Therapeut und Patient eine große Rolle. Wäre es nicht denkbar, dass im Rahmen von homöopathischen Behandlungen genau diese Beziehung die entscheidende Rolle spielt und zur Heilung beiträgt? Weil die Menschen auf der Suche sind nach einer Beziehung?
MEINLSCHMIDT: Es ist davon auszugehen, dass es auch bei Homöopathie einen Placeboanteil gibt, genauso wie es beispielsweise auch bei schulmedizinischen Schmerzmedikamenten der Fall ist. Es gibt eigentlich keine Gründe davon auszugehen, dass Placebowirkungen bei Homöopathie keine Rolle spielen. Wie groß der Effekt ist, das ist eine andere Frage. In einem Placebo steckt der Aspekt der Beziehung, aber nicht nur. Ob die Tatsache, dass jemand zum Homöopathen geht, dazu führt, dass eine besonders intensive Beziehung aufgebaut wird, ist wiederum eine empirische Frage. Das kann so sein, es kann aber auch ganz anders sein. Möglicherweise sind Menschen, die Homöopathie nutzen, skeptischer, wollen natürlicher leben oder versuchen, ihr Leben möglichst natürlich zu gestalten. Oder sie suchen schlicht etwas, das im Einklang mit ihren Werten steht. Aber deswegen müssen diese Menschen nicht unbedingt irgendeine Beziehung suchen.
Darin scheint sich aber auch eine erweiterte Kompetenz der Patienten zu zeigen. Sie haben möglicherweise mehr Wissen und suchen sich eher das, was sie „brauchen“.
MEINLSCHMIDT: Ich könnte mir vorstellen, dass die Schwelle sich für Homöopathie zu entscheiden nicht so hoch ist. Dass man aufgrund der niedrigen Dosierung dazu tendiert zu sagen „Homöopathie kann ja nicht schaden, außer dass sie Geld kostet“. Dann braucht man nicht einmal an das System glauben, sondern kann abwarten, ob es wirkt. Da sehe ich es schon so, dass Patienten informierter werden und sich besser auskennen. Diese Bewegung, die jetzt auch unter dem Stichwort 'Patient Empowerment' gezielt gefördert wird, ist etwas extrem Wichtiges und ich finde extrem Positives. Der Patient gibt seine Verantwortung nicht mehr komplett ab, damit die 'Fachperson' alles regelt.
Gleichzeitig zeigt sich doch offensichtlich eine große Schwierigkeit, die Wirkung von Homöopathie nachzuweisen. Übertragen wir auch das einmal auf die Psychologie: Ist es nicht wichtig, dass der Mensch, als Patient, bekommt, was er braucht? Die „richtige“, zu ihm passende Therapie?
MEINLSCHMIDT: Es gibt aktuell eine grundsätzliche Tendenz zur 'personalisierten Medizin'. Wir haben in der Psychotherapie eine lange Geschichte, in der versucht wurde, die Behandlung auf das Individuum zuzuschneiden. Das heißt, wir fragen tatsächlich: Was wirkt für wen am besten? Das an Psychotherapieverfahren festzumachen, greift zu kurz. Patienten wie Behandelnde bringen heute ihre Kompetenzen ein, auf Augenhöhe. So entsteht ein gemeinsames sich Austauschen und Entscheiden. Das zeigt sich auch ganz klar in der Kommunikation. Wie vermittele ich, wie etwas wirkt? Wie treffe ich Entscheidungen? So kommen mittlerweile mehr Patienten zum Arzt und stellen gezielt Fragen, meist basierend auf Informationen aus dem Internet. Womöglich wird die Homöopathie auch dadurch bedingt vermehrt nachgefragt.
Im Umkehrschluss brauchen dann also auch die Ärzte mehr ganzheitliche Kompetenz, den Patienten an den passenden Spezialisten oder Therapeuten zu vermitteln. Eine Art Metakompetenz, die vermutlich gar nicht so leicht zu entwickeln ist.
MEINLSCHMIDT: Kommunikationskompetenz ist ein ganz großes Thema, das bereits im Medizinstudium zunehmend an Bedeutung gewinnt: Der Ausbau der Fähigkeit, die Arzt-Patienten-Beziehung zu gestalten sowie wertschätzend und zielführend zu kommunizieren. Hinzu komm dann das, was Sie sagen. Dass die Behandelnden wirklich in der Lage sein müssen, in dieser größeren Vielfalt mit zu entscheiden und zu lotsen. Dazu braucht es ein großes Fachwissen. Auch und gerade Hausärztinnen und Hausärzte sind dabei extrem gefordert. So steht die Schulmedizin als klassische Disziplin plötzlich vielen anderen Alternativen und ergänzenden medizinischen Interventionsformen oder Gedankengebäuden gegenüber – wie der Homöopathie, die auf Wunsch des Patienten zumindest mitgedacht werden sollte.
Veröffentlicht am 20.12.2017