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Im Interview: Susanne Hallermann
„Hartz IV ist ein Schlag ins Gesicht von pflegenden Angehörigen“
Die finanzielle Unterstützung für pflegende Angehörige reicht oft nicht aus, um den Verdienstausfall der Betroffenen auszugleichen. Die geringen Zahlungen der Pflegekassen seien daher auch eine der Ursachen für Altersarmut, meint Susanne Hallermann. Sie ist Sprecherin der Interessenvertretung pflegender Angehöriger „wir pflegen e.V.“ und kämpft dort für gerechte Bedingungen für pflegende Angehörige. Im Interview erzählt sie, welche Gründe es für Altersarmut in Deutschland durch die Pflege von Angehörigen gibt – und welche politischen Entscheidungen notwendig sind, um die Lage zu verbessern.
Frau Hallermann, um pflegende Angehörige zu unterstützen, bekommen diese einen Rentenausgleich. Warum reicht das nicht aus?
Hallermann: Wenn Sie als Angehöriger die Pflege eines Familienmitglieds übernehmen, bekommen sie unterschiedlich viel Geld. Das richtet sich einerseits nach dem Pflegegrad des Angehörigen und andererseits nach den Pflegejahren. Je Pflegejahr erhöht sich die monatliche Rente um acht bis 31 Euro. Nimmt man Pflegesachleistungen in Anspruch, schrumpft der Rentenbeitrag aber um bis zu 30 Prozent. Das ist eine minimalistische und nicht armutsfeste Rentenabsicherung. Vor allem Frauen geraten so in Altersarmut. Das empfinden pflegende Angehörige als diskriminierend, denn ihre oftmals jahrelangen Pflegeleistungen entlasten den Sozialstaat in Milliardenhöhe.
Wie häufig geraten pflegende Angehörige in diese Armutsspirale? Gibt es Zahlen?
Hallermann: Zahlen fehlen in Deutschland leider. Wir wissen nicht, wer pflegt, wie oft, wie lange. Wir haben 2008 die Interessenvertretung „wir pflegen“ gegründet und 2009 das Thema Armut durch Pflege zum Schwerpunkt gemacht, weil es so ein Tabuthema war. Immer wieder hören wir von Pflegenden, die mehr als die durchschnittlichen 63 Stunden pro Woche pflegen und neben der psychischen Belastung große Probleme haben, die Situation finanziell zu stemmen. Pflegende Angehörige leisten 76 Prozent der Pflegearbeit in Deutschland. Der Staat ruht sich darauf aus und drängt die pflegenden Familien in Armut.
Was sind Ihre Forderungen an die Politik?
Hallermann: Wir fordern zunächst einmal, dass pflegende Angehörige nicht in das Hartz IV-System abgeschoben werden. Das ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die Familie leben und alles geben, um geliebten Menschen eine Pflege zu Hause zu ermöglichen. Hartz IV führt dazu, dass die Familien oftmals aus ihren Wohnungen ausziehen und kleinere, barrierefreie Wohnungen suchen müssen, die nach den festgelegten Grenzen des Arbeitslosengeldes II bezahlbar sind.
Die zweite Forderung ist eine echte Reform der Rentenabsicherung, die pflegende Angehörige wirklich vor Armut schützt. Das heißt, die Rentenbeiträge, aber auch die anderen Sozialversicherungsbeiträge, müssen noch weiter erhöht werden und es muss einen Rechtsanspruch hierauf geben. Die dritte Forderung ist, dass Pflege nicht finanziell auf den Familien lasten darf, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit gesamtgesellschaftlicher Finanzierung gesehen wird. Der vierte Punkt ist die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf. Die Gesetze hier sind absolut unzureichend und gehen komplett an den Bedürfnissen pflegender Angehöriger vorbei.
Was sind die Gründe dafür, dass man so schnell Gefahr läuft, in Armut zu enden?
Hallermann: Die durchschnittliche Pflegedauer beträgt 9,3 Jahre, danach ist man erschöpft, möglicherweise auch länger in einer Trauerphase. Nach so langer Zeit wieder in den Beruf zurückzukehren, ist schwer. Wir kennen Familien, die nicht wissen, wovon sie sich ein Brot kaufen sollen. Als wir 2009 angefangen haben, diese Geschichten zu erzählen, wurden wir von der Politik und den Medien nicht ernst genommen. Es hieß, das seien nur bedauerliche Einzelschicksale von Familien, die ihr Familien-Management nicht organisiert bekommen. Das stimmt so nicht, pflegende Familien haben keine Chance, der Armutsspirale zu entkommen. Dazu kommt, dass pflegende Familien durch die Pflege so sehr eingebunden sind, dass sie gar keine Kraft haben, auch noch für sich selbst zu kämpfen. Zu der finanziellen kommt die soziale Armut: Weil man nie rauskommt, kann man keine sozialen Kontakte pflegen, was auch sehr belastend ist. Deshalb ist es so wichtig, mit „wir pflegen“ eine Interessenvertretung für die größte Pflegesäule in Deutschland zu haben, die sich für verbesserte Unterstützung und soziale Absicherung einsetzt.
Glauben Sie, dass eine ausreichende Absicherung pflegender Angehöriger finanzierbar wäre?
Hallermann: Andere Länder machen es erfolgreich vor: In Skandinavien wird mehr vom Bruttoinlandsprodukt in die Pflege investiert. Dort ist es möglich, drei Kinder zu haben, die Mutter zu pflegen und trotzdem noch arbeiten zu gehen. Das wäre auch bei uns umsetzbar.
Veröffentlicht am 07.03.2019